Beabsichtigt ein Unternehmen wegen Aufgabe des Geschäftsbetriebs Massenentlassungen, ist die Agentur für Arbeit davon 30 Kalendertage zuvor schriftlich zu unterrichten. Da diese Mitteilung unvollständig war, verklagte ein Gekündigter den Insolvenzverwalter auf Unwirksamkeit der Kündigung. Das Bundesarbeitsgericht hat das anhängige Revisionsverfahren (Az.: 6 AZR 155/21 (A)) ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in dieser Sache angerufen.

Der EuGH wird im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens um eine Antwort auf die Frage gebeten, ob die unterbliebene Information des Arbeitgebers über die Massenentlassungen gegenüber der Arbeitsagentur Sanktionen nach sich zieht. In diesem Fall könnte die Kündigung des Klägers unwirksam sein.

Der Kläger arbeitete seit 1981 bei der Insolvenzschuldnerin. Das Insolvenzverfahren wurde am 01.10.2019 eröffnet. Am 17.01.2020 wurde die Einstellung des Geschäftsbetriebes der Insolvenzschuldnerin per 30.04.2020 beschlossen – und damit die Massenentlassung der zuletzt noch 195 Beschäftigten.

Gemeinsam mit dem Betriebsrat wurden im Anschluss „Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs sowie eines Sozialplans“ aufgenommen. Ebenfalls erfolgte das erforderliche Konsultationsverfahren gemäß Kündigungsschutzgesetz (KSchG). Allerdings erhielt die Bundesagentur für Arbeit laut Gericht „keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG übermittelt“.

Vielmehr wurde die Behörde mit Schreiben vom 23.01.2020 über die Massenentlassungen informiert und bestätigte den Eingang dieser Anzeige am 27.01. 2020. Der Kläger erhielt sodann die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses mit Datum vom 28.01.2020 zu Ende April. Die Beratungsgespräche für 153 Beschäftigte der Insolvenzschuldnerin terminierte die Agentur für Arbeit für den 28. und 29.01.2020.

Aus Sicht des Klägers ist die Kündigung damit aus formalen Gründen unwirksam. Er beruft sich dabei u.a. auf die Richtlinie 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (MERL). Denn „die unterlassene Übermittlung der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG an die Agentur für Arbeit verstoße gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL“. Diese Vorschriften enthielten nämlich nicht nur eine sanktionslose Nebenpflicht, sondern stellten eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung dar. Die Arbeitsagentur solle möglichst frühzeitig über die Massenentlassungen informiert werden. Dies solle die Übermittlungspflicht sicherstellen, die für den Kläger „arbeitnehmerschützenden Charakter“ hat. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat nunmehr den EuGH angerufen, um zu klären, „welchem Zweck die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL dient“. Nach Auffassung des Senats hängt davon ab, „ob § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der unionrechtskonform in gleicher Weise wie Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL auszulegen ist, ebenso wie andere, den Arbeitnehmerschutz – zumindest auch – bezweckende Vorschriften im Massenentlassungsverfahren als Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB anzusehen ist“. Würde diese Frage mit ja beantwortet, wäre die Kündigung unwirksam.

Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 27.01.2022 (Az.: 6 AZR 155/21 (A)).

Vorinstanzen:

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24.02.2021 (Az.: 17 Sa 890/20).

Arbeitsgericht Osnabrück, Urteil vom 16.06.2020 (Az.: 1 Ca 79/20).

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