Vor Gericht stritten der Arbeitgeber und der Betriebsrat über die Frage, ob das Gremium rechtmäßig einen Wirtschaftsausschuss einsetzen darf. Der neunköpfige Betriebsrat hatte sowohl am 16.11.2022 als auch am 26.04.2023 den Beschluss gefasst, einen Wirtschaftsausschuss zu bilden. Das aber lehnte der Arbeitgeber ab und beantragte gerichtlich die Feststellung, dass „die Bildung des Wirtschaftsausschusses“ durch die Arbeitnehmervertreter unwirksam sei.
Die Organisation ist eine gemeinnützige GmbH und betreibt u. a. „Wohnheime für die Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten, Aussiedlern und Obdachlosen“. Beschäftigt wurden zum Zeitpunkt des Streits insgesamt 162 Arbeitnehmer.
Bezugnehmend darauf, dass Tendenzbetriebe, bei denen nicht die Gewinnerzielung im Vordergrund steht, in wirtschaftlichen Angelegenheiten nicht dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) unterliegen, bezog sich der Arbeitgeber darauf, dass seine Tätigkeit „überwiegend karitativ iSd. § 118 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 BetrVG“ sei. In den verschiedenen sozialen Projekten erbringe er unmittelbar „sozialen Dienst an geistig, seelisch und körperlich leidenden Menschen“.
Auch verwies die Einrichtung auf Gegenstand und Zweck der Gesellschaft, die im Gesellschaftsvertrag niedergelegt seien. Danach sei Kerntätigkeit, „die Hilfe und Unterstützung von Menschen, um soziale Benachteiligung, Not und menschenunwürdige Situationen zu beseitigen sowie auf die Verbesserung der […] Lebensbedingungen hinzuwirken“.
Der Gesellschaftszweck werde erzielt „durch ein vielfältiges Angebot von Dienst- und Sachleistungen, die es hilfebedürftigen Menschen erlauben“ würdevoll zu leben, bei größtmöglicher Selbstständigkeit, unter Anerkennung der soziokulturellen Wurzeln und des eigenen Potenzials.
Der Betriebsrat beantragte in dem Verfahren hingegen, den Antrag der Arbeitgeberin zurückzuweisen. Denn die Gesellschaft sei nicht karitativ tätig. Die fehlende Gewinnerzielungsabsicht bestritt das Gremium dabei mit Nichtwissen.
Soziale Arbeit unterliegt nicht automatisch Tendenzschutz
Das Arbeitsgericht (ArbG) Hannover wies den Antrag des Arbeitgebers zurück. Denn die Haupttätigkeit liege nicht darin, „seelische und körperliche Leiden direkt zu behandeln, sondern die Menschen bei der Suche nach Hilfeleistern zu unterstützen“.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen folgte dem und unterstrich dabei die Argumentation der ersten Instanz. Zu Recht habe das ArbG den Antrag des Arbeitgebers zurückgewiesen: Denn dieser sei unbegründet. Schließlich „handelt es sich nicht um einen Tendenzbetrieb iSd. § 118 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG, so dass die §§ 106 – 110 BetrVG im vorliegenden Fall Anwendung finden“. Die Bildung des Wirtschaftsausschusses sei damit „zulässig“.
Aus Sicht der Kammer diene die Gesellschaft nicht unmittelbar und überwiegend karitativen Bestimmungen. Auch stellten weder körperliche oder seelische Leiden ein Aufnahmekriterium „der zugewiesenen Personen dar, wie dies etwa bei Werkstätten für behinderte Menschen nach §§ 56 ff. SGB IX der Fall ist“. Im Vordergrund der Tätigkeit stehe laut Gesellschaftszweck vielmehr „das Hinwirken auf die Beseitigung von sozialer Benachteiligung, von Not und menschenunwürdigen Situationen […]“ , heißt es im Beschlusstext des LAG.
Die Richterinnen und Richter betonten zudem, dass die bei dem Arbeitgeber beschäftigten Sozialarbeiter, wie schon die Berufsbezeichnung zeige, soziale Arbeit leisten, „die sich von karitativer Arbeit unterscheidet und ausweislich des Wortlauts § 118 Abs. 1 Satz 1 BetrVG nicht vom Tendenzschutz umfasst ist“. Die Mitarbeitenden widmeten sich der Aufgabe von sozialer Arbeit, nämlich Menschen zu befähigen und zu ermutigen, das Leben zu bewältigen und für das eigene Wohlergehen zu sorgen.
Insgesamt zielen die Leistungen der Gesellschaft für das LAG Niedersachsen damit „nicht darauf ab, etwa durch therapeutische oder medizinische Maßnahmen Heilung zu erzielen, mag auch die Verbesserung des seelischen Zustands ein positiver Nebeneffekt der sozialen Arbeit sein“. Schon vor diesem Hintergrund könne die Beschwerde des Arbeitgebers keinen Erfolg. Dahingestellt blieb für die Richterinnen und Richter, ob die Arbeitgeberin ihre Tätigkeit ohne Gewinnerzielungsabsicht erbringt.
Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen.
Beschluss des LAG Niedersachsen vom 10.06.2024 (Az.:4 TaBV 71/23).
Vorinstanz: ArbG Hannover vom 09.08.2023 (Az.: 11 BV 3/23).
[Infobox]
§ 106 Abs. 1 BetrVG (Wirtschaftsausschuss) lautet:
„In allen Unternehmen mit in der Regel mehr als einhundert ständig beschäftigten Arbeitnehmern ist ein Wirtschaftsausschuss zu bilden. Der Wirtschaftsausschuss hat die Aufgabe, wirtschaftliche Angelegenheiten mit dem Unternehmen zu beraten und den Betriebsrat zu unterrichten.“
§ 118 Abs. 1 BetrVG (Geltung für Tendenzbetriebe und Religionsgemeinschaften) lautet:
„Auf Unternehmen und Betriebe, die unmittelbar und überwiegend
- politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder
- Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerung, auf die Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes Anwendung findet,
dienen, finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung, soweit die Eigenart des Unternehmens oder des Betriebs dem entgegensteht. Die §§ 106 bis 110 sind nicht, die §§ 111 bis 113 nur insoweit anzuwenden, als sie den Ausgleich oder die Milderung wirtschaftlicher Nachteile für die Arbeitnehmer in Folge von Betriebsänderungen regeln.“