Betriebsrätin Silvia Thimm (54) wird nicht müde, die Krankenschwestern und Pflegern in der Unfallklinik in Duisburg zu erinnern: „Jeder Stich muss dokumentiert werden. Es gibt keine Bagatellstiche.“ Wer sich während der Arbeit an einer Spritzennadel sticht, muss den Unfall unbedingt aufschreiben. Die Wunde mag noch so klein sein, der Vorfall muss in das sogenannte Verbandbuch als Arbeitsunfall eingetragen werden.Dieser kleine Vermerk kann später darüber entscheiden, ob eine durch die Verletzung verursachte Hepatitis oder HIV-Infektion als Berufskrankheit anerkannt wird oder nicht. Bei der Versorgung von einem Kostenträger zum nächsten wechseln zu müssen – von Krankenkasse zur Pflegekasse dann zur Rentenkasse – ist alles andere als angenehm. Deshalb ist Thimm das Thema wichtig, deshalb ihre ständige Tour im Krankenhaus.
Unterwegs in Sachen Arbeits- und Gesundheitsschutz
Thimm ist seit 1988 im Betriebsrat der Unfall-Klinik am Rande der Sechs-Seenplatte im Süden von Duisburg. Idylle pur, nahe der Wasserwelt Wedau. Seit 25 Jahren kümmert sie sich um den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Ein Klassiker der Betriebsratsarbeit. Die Interessvertretung hat handfeste Möglichkeiten, gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen im Interesse der 660 Beschäftigten durchzusetzen. Und: Sie hat gute Gründe dies auch aktiv zu tun. Befragungen zeigen: Mehr als 90 Prozent der Betriebsräte sagen, gesundheitlich relevante Belastungen wie Zeitdruck, Arbeitsintensität und Verantwortungsdruck hätten in den vergangenen Jahren zugenommen.
Genau dies hat die gelernte Krankenschwester selbst erfahren. Am eigenen Körper hat sie gespürt, wie hoch die Belastungen und Anforderungen auf den Stationen im Krankenhaus sind. Damals arbeitete sie im neurologischen Bereich der Unfallklinik. Sie erinnert sich noch genau: Eine Station mit 20 Patienten, zwölf davon Schwerstpflegefälle – aber nur neun Pflegekräfte plus ein Zivi, für drei Schichten, an 365 Tagen im Jahr. Wer schon mal mit schädelhirntraumatisierten Patienten gearbeitet hat, weiß was das bedeutet. Dagegen wollte Silvia Thimm etwas tun.
„Man kann eine Menge bewegen“
Sie kandidierte für die Interessenvertretung und engagierte sich in der Gewerkschaft. Mit viel Druck und Aktionen gegen den Pflegenotstand stellten sich erste Erfolge ein: Es gab eine neue Berechnungsbasis für das Pflegepersonal. Am Ende auch mehr Krankenschwestern und Pfleger auf den Stationen. Das war eine wichtige Erfahrung für die 54-Jährige: „Man kann über die Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit eine Menge bewegen. Das hat mir Mut gemacht.“
Aber auch heute gibt es noch genug zu tun. „Wir stehen wieder an der Schwelle des Pflegenotstandes“, so die Eischätzung der Betriebsrätin. „Die Fachkräfte im Gesundheitswesen sind ausgepowert und am Rande ihrer Kraft. Auch hierbei können wir nur gemeinsam mit Druck und Aktionen, viel Energie und Kreativität Abhilfe schaffen.“

Betriebsrätin Silvia Thimm / Foto: privat
Eine ideale Konstellation für den Erfolg
Über die Jahre hat sich der Arbeits-und Gesundheitsschutz zu ihrer Leidenschaft entwickelt und ist heute ihr Thema in der Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit. Silvia Thimm ist nicht freigestellt von der Arbeit. Aber sie kann ihre Aufgaben in der Interessenvertretung und im Beruf gut verknüpfen. Denn: Beruflich ist sie seit diesem Jahr offiziell als Beauftragte für Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Umfallklinik unterwegs. Also eine ideale Konstellation, um erfolgreich zu sein.
An die erste Auseinandersetzung um ergonomische Bildschirmarbeitsplätze kann Thimm sich noch gut erinnern. Anfang der 1990er Jahre kamen die ersten Textautomaten – flimmernde Bildschirme mit grüner Schrift auf schwarzem Grund. „Wir haben damals die ergonomische Gestaltung von Bildschirmarbeitsplätzen mit dem Arbeitgeber diskutiert. Das hat der Klinikleitung überhaupt nicht gepasst. Es gab eine heftige Auseinandersetzung.“ Am Ende aber führte man in Duisburg – als eine der ersten Unfallkliniken überhaupt – eine entsprechende Regelung ein.
Die gesetzlichen Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz bieten viele Gestaltungsmöglichkeiten, sagt Thimm. Mit einer Gefährdungsbeurteilung muss der Arbeitgeber Belastungen am Arbeitsplatz beleuchten und Risiken vermeiden.
Die Gefährdungen reichen von Rückenbelastungen beim Heben und Tragen über Infektionsrisiken durch Stichverletzungen bis hin zum Umgang mit Gefahrstoffen – etwa Desinfektionsmitteln oder Medikamenten. Aber auch Stress und psychische Belastungen wegen der Arbeitsorganisation und des hohen Zeitdrucks spielen eine Rolle. Bei der entsprechenden Gefährdungsbeurteilung muss auch der Betriebsrat beteiligt werden. „So trocken sich das auch anhört, ist es doch ein großer Hebel, um die Arbeitsbedingungen für die Kolleginnen und Kollegen menschengerecht zu gestalten“, argumentiert die Betriebsrätin.
Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Praxis lebbar machen
2005 wurde Thimm von der Gewerkschaft Verdi in die Selbstverwaltung der Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) nach Hamburg delegiert. Warum ließ sie sich dafür begeistern? „Weil die Arbeit der Berufsgenossenschaft wichtig ist“, sagt sie und verweist auf den Arbeitsschutz, den die BGW vorantreibt. Sie sitzt im Rentenausschuss und entscheidet über die schwierigen Fälle: „Da geht es dann um die Frage, ob es sich um einen Arbeitsunfall handelt. Ich denke dann immer an die Bagatellstiche mit der Nadelspritze. Wenn es keinen Nachweis gibt, haben die Betroffenen keine Chance.
Gut 40 Arbeitstage im Jahr verbringt sie mit der Wahrnehmung ihres Mandats. Bei so viel Zeiteinsatz muss natürlich auch was rumkommen. So ist die Betriebsrätin stolz darauf, an den Initiativen der BGW aktiv mitarbeiten zu können. Dabei hat sie die praktische Umsetzbarkeit im Auge, sei es beim Thema Rückenentlastung oder auch beim Hautschutz. Die Berufsgenossenschaft will in den Betrieben beraten und konkret zeigen, dass Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Praxis lebbar ist. „Ich will dazu beitragen, den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass meine Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit möglichst unversehrt und lange bis zur Rente ausüben können“, sagt die 54-Jährige.
Schmunzelnd fügt sie hinzu: „Das ist mehr als das beim Krankenhauspersonal oft diagnostizierte Helfer-Syndrom.“ 25 Jahre Betriebsratsarbeit, Einsatz für den Gesundheits- und Arbeitsschutz: Ist diese Ära für die Duisburgerin mit den Betriebsratswahlen 2014zu Ende? Keineswegs. Silvia Thimm kandiert für den neuen Betriebsrat für Verdi. Sie ist optimistisch, dass sie weitermachen kann – als Betriebsrätin und Beauftragte für Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Duisburg.
Info
Berufsgenossenschaftliche Unfallkliniken (BGU):Die gesetzlichen Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaften und Unfallkassen) betreiben neun Unfallkliniken und zwei Rehabilitationskliniken. Die BGU Duisburg besteht seit über 50 Jahren. Bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten treten die Kliniken ein für die Erstversorgung am Unfallort, die Behandlung und Rehabilitation bis hin zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess – wenn es nötig ist, auch für die Rentenzahlung. Die Leitlinie der Kliniken lautet „Alles aus einer Hand“. Damit garantieren sie, dass Patienten nicht von einer zur anderen Stelle verschoben werden, sondern im Gegenteil alles unternommen wird, damit die Versicherten schnell wieder gesund werden. Oft sind die Rehabilitationseinrichtungen an die Krankenhäuser angegliedert – damit schnell mit der Rehabilitation begonnen werden kann. Alles aus einer Hand heißt auch, dass es keine Kompetenzstreitereien gibt, die gegebenenfalls auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden könnten.
Autor
Dr. Klaus Heimann arbeitet als freier Jouranalist und Berater mit den Schwerpunkten Arbeit, Bildung und Karriere in Berlin. Bis Ende 2012 war er Ressortleiter Bildung beim Vorstand der IG Metall in Frankfurt/Main (Foto: Privat).